Los gehts! Schauen wir uns erst einmal an, wie sich die Hartz-Four-Gruppe zusammenrauft:
Eine Legende entsteht: Wie alles
begann
Auch
wenn es noch recht kühl war, genoss Dietmar die ersten
Sonnenstrahlen des Frühlings. Er lehnte vor dem Einkaufscenter in
der Neuköllner Hermannstrasse an einem Laternenpfahl und wartete auf
seine Schwester.
„Neukölln
kann so entspannend sein!“, dachte er „Von mir aus müssen wir
heut nicht unbedingt nach Zehlendorf raus, aber wenn Sandra unbedingt
will …“
Vor
ein paar Wochen hatte Sandra ihn überredet, die Hartz-Angels zu
gründen, eine Organisation, die Hartz-IV-Empfängern helfen sollte.
Er vermutete, dass sie so ihr Helfersyndrom in den Griff kriegen
wollte – und … naja … Vielleicht war das gar keine so blöde
Idee und er konnte ein paar Erwerbslose für seine marxistischen
Ideen begeistern …
Heute
ging es um einen Typen, den es laut Sandra unwissend in eine
Hartzie-feindliche Bonzengegend verschlagen hatte. Und da man den
Enthusiasmus junger Leute nicht bremsen sollte, hatte Dietmar in den
Trip eingewilligt.
In
diesem Moment kam Sandra aus dem Center gestürmt.
„Ich
habe wieder diese Stimme gehört!“, rief sie mit besorgter Miene,
„noch viel deutlicher als beim letzten Mal!“
„War
das vielleicht die selbe Stimme, die dir heute Nacht eingehaucht hat,
dass wir nach Zehlendorf fahren müssen, um einem Hartzie zu helfen?
Lass mich raten: Die Stimme hat dir eben geflüstert: „Nö, lasst
mal, ihr braucht nicht nach Zehlendorf raus …““
„Dietmar,
wir fahren!!!“
„Ich
sag dir: Hier in Neukölln werden wir viel dringender gebraucht.“
„Jetzt
hör mir mal zu: Die Stimme eben war verdammt real!“
„Das
ist doch alles Quatsch! Du hörst diesen Mist, weil du ständig zu
irgendwelchen Eso-Kursen rennst. Lass gut sein, komm!“
„Ach,
und was war das letzte Woche mit der Maier aus dem Erdgeschoss?“
„Zufall
…“, grummelte ihr Bruder, während sie die Treppe zur S-Bahn
runter gingen.
Letzten
Freitag hatte Sandra ihm am Frühstückstisch von einem Traum
erzählt, in dem sich Scharen von losen Blättern eines
Hartz-IV-Antrages in eine schwarze Krähe verwandelten und auf eine
ältere Frau stürzten. Am Nachmittag hatte dann eine Nachbarin aus
dem Erdgeschoss bei ihnen geklingelt: „Herr Röber, Sie kennen sich
doch mit diesen Hartz IV–Anträgen aus. Der Krähe, also mein
Sachbearbeiter, der meint, ich hätte da was falsch ausgefüllt, und
nun …“ und dann war sie in Tränen ausgebrochen und von Sandra
notversorgt worden.
Sie
stiegen in die S-Bahn.
„Na
und? Es ist doch schon seltsam, dass du ausgerechnet immer beim
Einkaufen über diese Stimmen klagst! Typisch Frau, würde ich mal
sagen. Du und dein Psycho-Hallidalli! Es ist doch völlig bescheuert,
dass ich mit dir nach Zehlendorf fahre, nur weil du angeblich heute
Nacht eine spirituelle Eingebung hattest. Das ist das letzte Mal,
verstanden? Das aller, allerletzte Mal!“
Sandra
starrte stur aus dem Fenster.
„Pass
auf: Ich mache dir einen anderen Vorschlag: Ich werde in dieser Woche
die RZN gründen, die Rote Zelle Neukölln, eine sozialistische
Gruppierung. Wir werden“, dozierte er weiter, „von den späten
Schriften Lenins ausgehend, nach Wegen suchen, die kapitalistischen
Machtverhältnisse in unserem Stadtteil zu überwinden. Mach doch bei
uns mit, vielleicht kann ich dir den interessanten Posten der 2.
Vorsitzenden vermitteln, dann kommst du auf andere Gedanken.“
„Alles
klar, Dietmar, 2. Vorsitzende, super, wirklich eine super Position,
wenn dein Verein nur ein Mitglied haben wird: nämlich dich!“,
giftete Sandra zurück.
Von
da an schaute auch Dietmar beleidigt aus dem Fenster.
Während
das Geschwisterpaar schweigend in der S-Bahn saß, beobachtete die
vierundzwanzigjährige Studentin Patrizia Klausen aus einer Dachluke,
wie ein breitschultriger Mann in Shorts mit einer Kettensäge im
Garten ihrer Eltern wütete.
Mit
zittrigen Händen zog sie ihr Handy aus der Hosentasche.
„Gleich
die Polizei? Ach nö, lieber nicht, das gab beim letzten Mal nur
Ärger.“
Sie
hatte die Polizei wegen eines Pakets geholt, das der Postbote
abgegeben hatte. Auf der Verpackung waren arabische Schriftzeichen
und es tickte. Später klärte sich dann alles auf: Ihr Vater,
Rechtsanwalt Peter Klausen, musste sich mit Gesetzestexten der
Scharia auseinander setzen und als Werbegeschenk lag den Büchern
eine in Dubai angefertigte altertümliche Armbanduhr bei. Sowohl die
Uhr als auch die Bücher hatten die Sprengung des Pakets nicht
überstanden. Die Putzfrau fand regelmäßig kleine Papierfetzen, auf
denen Sachen standen wie "Allah ist groß" oder "Tod
den Ungläubigen".
“Nee, lieber Papa
anrufen...”
Als
sie die Nummer von der Anwaltskanzlei ihres Vaters wählte, sah sie
aus dem Augenwinkel, wie der Unbekannte prüfend am Haus hoch schaute
und dann auf den Eingang zusteuerte. Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen, aber der Fremde war weg, er musste im Haus verschwunden
sein. Und was noch schlimmer wog: Sie hatte das Gefühl, dass er
genau wusste, wo er nach ihr zu suchen hatte ….
„Rechtsanwaltskanzlei
Klausen & Partner, Schneider am Apparat.“
„Hier
ist Patrizia, kann ich meinen Vater sprechen?“
„Ich
verbinde …“, sagte die Rechtsanwaltsgehilfin und Patrizia hörte
das übliche Mozartgedudel.
Minuten
verstrichen.
„Ich
hätte doch gleich die Polizei anrufen sollen …“, stammelte sie
vor sich hin.
Ein
donnerndes Pochen dröhnte gegen die Dachkammertür.
Stille,
nur die quäckige Mozart-Sinfonie aus dem Handylautsprecher.
„Pock,
Pock, Pock“, hallte es wieder, dann sagte eine raue Stimme:
„Fräulein
Klausen, sind Sie da drin?“
„Patrizia,
was ist denn los?“, meldete sich fast zeitgleich ihr Vater.
„Papa,
da ist ein Fremder, ich kann jetzt nicht sprechen …“, flüsterte
Patrizia so leise es ging und presste ihre Hand auf den Lautsprecher
.
Sie
lauschte … Dann hörte sie Schritte auf der Treppe, die langsam
leiser wurden.
Dicke
Verzweiflungstränen liefen ihr die Wangen hinab.
„Papa…?“,
schniefte sie ins Handy.
„Ja,
was ist denn nun los?“
„Da
ist ein fremder Mann, ich hab mich vor ihm versteckt …“
„Ach
so … Nein, Patrizia, beruhig dich, der arbeitet in unserem Garten.“
„Was?
Wie? Der arbeitet hier? Aber … aber von was für einer Firma kommt
der denn? Der hat total dreckige Klamotten an und ein großes
hässliches Tattoo auf dem Oberarm?“
„Der
kommt direkt von der Arbeitsagentur.“
„Wie
jetzt, das ist so ein Ein-Euro-Jobber?“, entgegnete Patrizia
entrüstet.
„Patrizia,
der kümmert sich um den Garten und deine Mutter hat ihm auch noch
ein paar Aufgaben im Haus gegeben, ich muss jetzt hier weiter machen
…“
„Ihr
lasst diesen Hartz-IVler ins Haus, während ich hier ganz allein
bin? Sag mal …“
„Nun
reiß dich mal ein bisschen zusammen, junge Dame. Wir haben in den
letzten Monaten an der Börse viel Geld verloren. Da müssen wir
jetzt alle ein bisschen kürzer treten. Patrizia, hör zu, ich muss
jetzt Schluss machen, mein Mandant kommt gleich, tschüss, Patrizia,
tschüss!“
Mit
diesen Worten legte ihr Vater auf.
Wie entwickelt sich der Konflikt zwischen Patrizia und dem Ein-Euro-Jobber? Schaffen es Sandra und Dietmar rechtzeitig in die Villengegend, um ihm zu helfen? Nächste Woche geht es weiter...
© Georg Weisfeld c/o Agentur
Literatur Hebel & Bindermann