Off-Topic: Bevor es mit neuem Hartz-Four-Material weiter geht, hier eine andere Hartz-IV Geschichte:
Hartz
IV in Mecklenburg-Vorpommern
Seit
geschlagenen anderthalb Stunden saß Bernd Gölke im Jobcenter in
Anklam und
wartete darauf, dass ihn sein Fallmanager aufruft. Es war
kurz vor 22 Uhr – morgen muss er auf Grund seiner Maßnahme früh
raus - trotzdem
hatte er ein gutes
Gefühl. Der 46igjährige gelernte Elektriker gähnte nochmal und
zog das Anschreiben aus der Innentasche seiner Jacke. Nee, es stimmte
alles: Das Datum sowie
die Uhrzeit waren
auf 20:30h angesetzt. Vor einem Dreiviertel Jahr befand er sich
einmal
in einer ähnlichen Situation und ist nach 40 Minuten einfach
gegangen. Herr Beseke, sein damals
noch neuer
Berater, erklärte ihm später,
dass das Warten eine disziplinarische Mittel gewesen sei, und
sanktionierte ihn wegen angeblichen Nichterscheinens.
Endlich ging die Tür auf und der junge
Mitarbeiter des Jobcenters
sagte: „So
kommen sie rein ...“ Gölke betrat das Zimmer und setzte sich dem
Angestellten gegenüber an den Tisch. Das Verhältnis der beiden war
kein Gutes: Martin
Beseke war ein, ehrgeiziger Fallmanager, der ursprünglich aus
Hannover kam, studiert hatte, unter anderem in den USA, um hinterher
eine Stelle in diesem Jobcenter in Mecklenburg-Vorpommern anzutreten.
Dass er sich den Ostdeutschen Eingeborenen überlegen vorkam, machte
ihn bei seinen Kunden nicht grade beliebt.
„Und,
wie
läuft ihre Maßnahme?“, wollte Herr Beseke von Gölke nicht
wirklich
wissen. Diese sei zufriedenstellend, grummelte der
Langzeitarbeitslose und
musste
daran denken, dass er am nächsten Tag um sechs aufstehen muss. Es
handelt sich bei seinem Ein-Euro-Job um eine Kooperation des
Jobcenters Anklam mit der mit EU-Geldern geförderten Initiative
„Werd Schülerlotse – dein Weg in die Beschäftigung“.
Für
dieses Pilotprojekt wurde das von seinem Wohnort 15 Kilometer
entfernte Dorf Mönkebude ausgewählt, um den dortigen Schüler
Sicherheit
auf den Schulweg zu gewährleisten.
Jeden
Morgen fallen in diesem Ort die zahlreichen Hartz-IV-Empfänger der
Umgebung ein, um als Schülerlotsen die Kinder sicher von einer
Straßenseite zur gegenüberliegenden zu leiten.
Gölke war
für
einen schmalen,
unbefahrenen Feldweg zuständig, über
den er morgens
zwei Grundschulkinder hin und gegen 13 Uhr zurück lotste. Von Montag
bis Freitag steht er auf diesem Trampelpfad mit seiner Leuchtweste.
Schon
unzählige Male hatte er von dort aus gesehen, wie der Nebel in den
frühen Morgenstunden über dem Stettiner Haff schwebte und langsam
von den Sonnenstrahlen verdrängt wurde.
Wenn das Wasser zu funkeln beginnt, setzten seine chronischen
Hüftschmerzen ein, aber
hinsetzten, darf er sich nicht, ein Kind könne ja
früher
zurückkommen. Im Februar hat
er eine weitere
Sanktion bekommen, weil herauskam, dass er einen Schneemann gebaut
hatte. Einmal
kam eine alte
Frau zu ihm und zeigte ihm ein Foto, auf dem er sehen konnte,
wann dieser Weg das letzte Mal befahren wurde: Man sah ein mit
Menschen beladenes Pferdefuhrwerk und auf der Rückseite des Bildes
stand: „Ostpreußen auf der Flucht vor dem Russen.“
„Sie
fragen sich wahrscheinlich,
warum ich sie heute so
spät
eingeladen habe?“,
begann Beseke jetzt das Beratungsgespräch. „Ja,
das bedeutet, für mich Überstunden“ ergänzte er und steckte
unauffällig seine handliche Playstation Vita in eine Schublade des
Schreibtisches. „Nun,
The early bird catches the worm. Bisher ging es mir darum, Sie früh
aufstehen zu lassen - doch
das wird sich bei Ihnen Sie möglicherweise
ändern ...“ Der Fallmanager stand genüsslich auf, schritt
bedeutungsvoll zum Fenster und schaute in die Dunkelheit. „Eventuell
habe ich nämlich eine Vollzeitstelle für Sie ...“, hauchte er
fast geheimnisvoll gegen die Fensterscheibe und sah in der Reflexion,
wie sein Kunde ungläubig die rechte Augenbraue hob.
„Ganz
ruhig,
Gölke, ganz
ruhig
...“ Er drehte sich um und glotzte den HartzIV-Empfänger
scharf an. „Dass wir uns hier
verstehen: Das, was ich ihnen jetzt erzähle, ist topsecret,
verstanden?“ Gölke nickte kurz. „Nun,
die Tante meiner Frau sitzt ja im Gemeinderat von Ribnitz Damgarten
und dort wird beraten, inwieweit man mit Subventionen in das
amerikanische Investment-Projekt „Coastgold“ einsteigt.
Diese Investment-Group
hat
weltweit „Entertainment und Recreation“- Parks aufgebaut und
überlegt nun
folgendes Projekt zu launchen“
Er
wendete sich zur Fensterscheibe, hauchte gegen diese, so
dass sein Atem an dem Glas kondensierte, und machte
mit seinem Zeigefinger
einen Punkt. Der arbeitslose Elektriker fragte sich, wie
häufig
sein Fallmanager für
dieses Schauspiel geprobt haben
mochte. „Ribnitz Damgarten, an der Küste: Aquarium“. Er
machte einen zweiten Punkt, etwas weiter unten „Das Kaff Marlow,
Musical-Theater und ...“ er tappte ein drittes Mal auf die Scheibe
„Achtung Gölke, hier wird’s für Sie interessant:
Poppendorf,
ein Multiplex-Kino.
Drei superstarke Event-Konzeptionen! Das Gesamtprojekt heißt, na
...“ Er schaute seinen Kunden scharf an, um dann
mit seinem Zeigefinger
alle Punkte
miteinander zu verbinden: „Entertainment-Triangel –
Unterhaltungs-Dreieck, hört sich auf Deutsch
ein bisschen sperrig an. So,
Poppendorf, da wo das Multiplex hin soll, ist ja nur hundert
Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, und da ich in Ihrer Datei
gelesen habe, dass sie Elektriker gelernt haben – ich wusste gar
nicht, dass es in der DDR schon Strom gab – aber gut, das könnte
Ihnen hier vielleicht helfen.
Denn: Was braucht man in einem solchen Kino? Na, einen Facility
Manager – Moment, ich übersetzt kurz mal ins DDR-Deutsch: einen
Hausmeister.
Früher
Elektriker, heute Hausmeister
- na, wie wäre
das?“
Gölke
hätte
vor Freude in die Luft springen können, doch
er wollte nicht aus der Rolle des faulen Ossis fallen. Deswegen
grummelte er in seinem norddeutschen Akzent, dass es in Stralsund
bereits das Ozeanum gebe und das in Waren
kürzlich ein Multiplex zugemacht habe.
„Hey
Gölke, die Sache ist natürlich
noch nicht save, aber:
Think positiv! Und seien Sie flexible. Kinovorstellungen: Die fangen
nachmittags an und gehen teilweise bis tief in Nacht. Und da ist ein
Facility-Manager schon gefordert. Das heißt, wir reden nicht von so
einem ordinären „Nine to Five“ Job, sondern hier werden Leute
gebraucht, die nachts fit sind.
Wir wissen nicht, ob dieses Konsortium sich für dieses Projekt
entscheidet. Ich habe jedoch
entschieden, dass wir volles
Risiko fahren. Deswegen
hab
ich folgende Roadmap arrangiert: a) Ich nehme Sie aus der
Schülerlotsenmaßnahme, b) wir konditionieren Ihren
Daily-Life-Rhythmus um: Sie werden ein Spätschichtmensch, wie wir
das anstellen, erläutere ich gleich, und c) Sie probieren mit einer
straighten Initiativ-Bewerbung ihre potenziellen Mitkonkurrenten
auszustechen. Also,
ab heute schlafen Sie wieder
aus: Egal was die Nachbarn da vielleicht
denken – Sie und ich, wir wissen,
dass Sie das für die kommende Arbeitsstelle vorbereitet. Für nachts
habe
ich Ihnen ein Fernsehprogramm zusammengestellt ...“ er schob seinem
Kunden kopierte Blätter einer „TV-Spielfilm“ rüber. „Markierten
Sendungen anschauen und
einen Bericht schreiben, damit ich sehe, dass sie nicht zu früh
ins Bett gegangen sind.
Haben
wir uns verstanden?“ Gölke nickte brummend. „Schön,
dann
hoffe ich, dass Sie diese Opportunity nutzen!“
Fünfzehn
Minuten später
saß Gölke auf seinem Fahrrad und tippte mit der rechten
Hand eine SMS an seinen Kumpel Boris. Ihr Plan sei aufgegangen,
lautete die simple Botschaft. Boris war auch Kunde von Herrn Beseke
und arbeitete als Schülerlotse in Mönkebude. Auf den vielen
gemeinsamen Rückfahrten stellten die beiden Ein-Euro-Jobber fest,
dass diese Maßnahme für sie wie ein offener Strafvollzug sei. Vor
drei Monaten erfuhr Boris,
dass der Mann seiner Nichte der Enkel einer Lokalpolitikerin aus
Ribnitz-Damgarten ist. Das war
kein Zufall, ist doch
in den entvölkerten Landstrichen Vorpommerns jeder
mit jedem
irgendwie
verwand. Die zwei Arbeitslosen setzten sich ein Wochenende hin und
schrieben zusammen Projekt-Exposees einer fiktiven amerikanischen
Investmentgruppe und formulierten Anforderungsprofile für
potenzielle Arbeitnehmer, wobei wichtig war, dass hier ausschließlich
Spätschichtarbeiter gesucht werden, damit sie aus diesem
Schülerlotsenprogramm raus kommen. Alle Unterlagen würzten sie mir
vielen englischen Business-Begriffen.
Endlich konnten sie die Kenntnisse anwenden, die sie sich in ihren
unzähligen Bewerbungstrainings angeeignet hatten.
Die
entfernte Verwandte leitete die Dokumente gerne an den Mann ihrer
Nichte weiter,
war das arrogante Verhalten dieses Schnösels auch für sie
untragbar.
Sein
Handy brummte: Boris hatte ebenso gute
Nachrichten. Für ihn probiert der enthusiastische Beseke sogar
einen Tauchkurs, auf Kosten des Jobcenters, zu finanzieren. Der
Fallmanager sieht Boris bereits
mit den Delphinen im Damgartener Aquarium tauchen, während dieser
sich bescheiden auf den Schnorchel-Kurs im Stettiner Haff freut.
Jetzt
gilt es diese Luftschlösser zwei bis drei Jahre aufrecht zu halten
und aufzupassen, dass sie nicht Realität werden:
In
Arbeitslosenkreisen munkelt man, dass sowohl Stuttgart 21 als auch
der Berliner Flughafen ursprünglich Geisterprojekte von Arbeitslosen
waren, bis die Papiere in die Hände von manischen Politikern gelangt
sind ...
(c) Georg Weisfeld
(c) Georg Weisfeld